"Ausgewogene Doppelnutzung"

In der aktuellen Diskussion ist oft von den "regionalen Wirtschaftskreisläufen" als Mittel gegen die alles plattmachende Globalisierung die Rede. Der Traum der autarken Alpen geht allerdings an der Realitäten vorbei. Das Konzept der "ausgewogenen Doppelnutzung" könnte Klarheit in diese Diskussion bringen.

Sollen nur diejenigen Wirtschaftsaktivitäten, die nicht globalisierungsfähig sind oder die sinnvollerweise nicht auf der globalen Ebene ablaufen können (aber was ist hier der Massstab für "sinnvoll"?), im regionalen Rahmen ablaufen, oder soll möglichst alles Wirtschaften regionalisiert werden? Ist die Idee der regionalen Wirtschaftsverflechtungen eine Kampfansage an den Prozess der Globalisierung, weil sie eine Autarkie- oder Kreislaufwirtschaft fordert, oder nur eine Ergänzung, die einen bislang unterbelichteten Teilaspekt der Globalisierung aufwertet?

Kampf gegen oder Ergänzung zur Globalisierung?

Am Beispiel der Alpen werden diese Grundsatzfragen schnell sehr anschaulich. Die Idee einer autarken Wirtschaft in den Alpen ist illusorisch, da die meisten Menschen heute von Wirtschaftsaktivitäten für ausseralpine Nachfrager leben (Tourismus, Industrie, Wasserkraftproduktion, Handel und Transitverkehr). Rein theoretisch haben um 1870, als Land-/Forstwirtschaft noch in der Blüte ihrer Entwicklung standen, maximal 4 Mio. Menschen in den Alpen von der Nutzung der endogenen Potentiale gelebt - für die heutigen 13 Mio. Menschen wäre bei einer Autarkie-Wirtschaft kein Platz!

Auch die oft gehörte Meinung, die Alpen wären in der vorindustriellen Zeit wirtschaftlich autark gewesen, ist falsch: Zahllose Marktorte in den Alpen und am Rande der Alpen belegen, wie viele Lebensmittel und Güter regelmässig getauscht werden mussten, weil die einzelne Familie, das einzelne Dorf, das einzelne Tal von manchen Produkten per Zufall zu viel, von anderen zu wenig besass. Und überall wurden naturräumliche Unterschiede wie z.B. zwischen tiefen Tallagen und hochgelegenen Seitentälern oder zwischen Alpen- und Vorlandregionen für wechselseitige Spezialisierung und systematischen Austausch genutzt. Die zeitweilige Auswanderung von Alpenbewohnern (kein Indiz für Überbevölkerung, sondern uralte Praxis) und der dezentrale Saumverkehr durch die Alpen sorgten für weitere wichtige Verflechtungen zwischen den Alpen und den Nachbarregionen.

Alpine Autarkie-Wirtschaft weder realistisch noch wünschenswert

Selbst aus kulturellen Gründen wäre die Realisierung einer Autarkie problematisch: Die Alpen haben im Laufe der Geschichte bis heute stets vom Austausch und der offenen Kommunikation mit Europa profitiert. Oftmals gehen gerade von Zuzüglern, also von "Fremden", wichtige Impulse für eine bessere Nutzung der endogenen Potentiale und eine bessere wirtschaftliche Verflechtung zwischen ihnen aus. Eine Autarkie-Wirtschaft als Kampfansage an die Globalisierung ist aus wirtschaftlichen, geschichtlichen und kulturellen Gründen in den Alpen also nicht realistisch und nicht einmal wünschenswert: Der Austausch von Wirtschaftsprodukten auf der Grundlage unterschiedlicher Naturraumpotentiale ist ökologisch sinnvoll und oft mit kultureller Bereicherung eng verbunden.

Dies stellt aber kein Argument für die ungehemmte Globalisierung dar. Im Rahmen der zunehmenden europa- und weltweiten Arbeitsteilung geraten die Alpen immer stärker in Abhängigkeit von der ausseralpinen Wirtschaft: Die endogenen Ressourcen der Alpen (Land-/Forstwirtschaft, Rohstoffgewinnung, lokales Handwerk und Gewerbe) werden total entwertet, weil diese Produkte an anderen Stellen Europas viel billiger hergestellt werden können, und die Nutzung bestimmter alpiner Ressourcen für die europäischen Zentren (Erholung, Transit, Wasser) wird wirtschaftlich dominant, was untrennbar mit dem Verlust von Eigenständigkeit und Eigenverantwortung verbunden ist.

Diese Entwicklung führt zu gravierenden Problemen: In den Gunsträumen, also in den gut erreichbaren Tälern, Becken und in ausgewählten Hochlagen, herrscht heute eine ausgeprägte Übernutzuung vor, in den grossflächigen Ungunsträumen, also auf den Hängen und im eigentlichen Hochgebirge, wird jede Nutzung eingestellt - beidemale sind damit schwere ökologische und kulturelle Probleme verbunden.

Selbständigkeit der Einheimischen geht verloren

Aber nicht einmal wirtschaftlich ist diese Entwicklung für die Alpen attraktiv: Je länger desto mehr verlieren die Einheimischen im Rahmen der grossräumigen Arbeitsteilungen ihre wirtschaftliche Selbständigkeit an ausseralpine Konzerne. Dies ist derzeit im Tourismus gut zu sehen, wo die Pensionen und kleinen Hotels der Ortsansässigen durch internationale Hotelkonzerne vom Markt verdrängt werden. Ähnliches läuft bei den alpinen Städten ab: Lange Zeit hatten sie eine grosse wirtschaftliche und funktionale Selbständigkeit als "Zentrale Orte" für ihr Umland; seit etwa einem Jahrzehnt jedoch werden sie dank optimaler Erreichbarkeit auf der Strasse und mittels der neuen elektronischen Medien zu "Vororten" der grossen Zentren wie München, Wien, Mailand, Lyon oder Zürich umfunktioniert, wodurch ihre Eigenständigkeit drastisch abnimmt.

Und da alle modernen Formen der Nutzung sehr intensiv ausgeübt werden, sind sie mit anderen Nutzungsformen immer schlechter zu vereinbaren. Deshalb entstehen wirtschaftlich labile, extern geprägte Monofunktionen - Tourismus-, Industrie-, Transit-, Wohnregionen -, ergänzt durch diejenigen Funktionen, für die in den Agglomerationen kein Platz mehr ist: Militärische Übungsgebiete, Abfall- und Deponiegebiete (auch für radioaktiven Abfall), Wasserkraft- oder Trinkwassergebiete. Im Rahmen dieses Strukturwandels gerät so die gesamte alpine Wirtschaft in die direkte Abhängigkeit der europäischen und globalen Wirtschaftszentren. Dabei werden die traditionellen Nutzungsformen mit ihrem engen Bezug zu Umwelt, Geschichte und Kultur entweder ersatzlos zerstört oder durch moderne Formen ersetzt, die weder umwelt- noch sozialverträglich sind und die wirtschaftlich wegen ihrer Monofunktion und Zentren-Abhängigkeit sehr labil sind.

Diesen mit der Globalisierung verbundenen Problemen lässt sich nicht durch eine Aufwertung von nicht globalisierungsfähigen Ressourcen begegnen - ihr Effekt wäre viel zu unbedeutend. Da weder Autarkie noch Globalisierung als Leitidee für "regionale Wirtschaftsverflechtungen" geeignet sind, soll hier als dritte Idee diejenige der "ausgewogenen Doppelnutzung" propagiert werden. Kerngedanke ist, dass überregionale Arbeitsteilung und Wirtschaftsaustausch unverzichtbar sind, dass sich daraus aber keine einseitigen Abhängigkeiten zwischen Zentren und Peripherien entwickeln dürfen. Denn diese führen zu ökologischen, sozio-kulturellen und auch wirtschaftlichen Problemen in den Alpen, im ländlichen Raum, in der Peripherie, die langfristig auch die Wirtschaft der Zentren zerstören, also keine nachhaltige Entwicklung ermöglichen.

Ausgewogene Doppelnutzung zur Stärkung der Alpen

"Ausgewogene Doppelnutzung" bedeutet für die Alpen: 1. Alle endogenen Wirtschaftspotentiale im Alpenraum werden zur Erhöhung der Eigenständigkeit genutzt, und zwar ausschliesslich in umwelt- und sozialverträglicher Form. 2. Exogene Nutzungen, also solche für ausseralpine Nutzer, werden zur Verbesserung und Verbreiterung der Wirtschaftsbasis systematisch genutzt, aber ebenfalls nur in umwelt- und sozialverträglichen Formen. 3. Bei Nutzungskonflikten zwischen endogenen und exogenen Nutzern erhalten im Zweifelsfall die endogenen Kräfte einen Vorrang, was eine politische Stärkung der Alpen in Europa erfordert. 4. Die exogen orientierten Monofunktionen werden reduziert, indem sie systematisch mit der endogenen Regionalwirtschaft verflochten werden. 5. Die Preise der Leistungen der Alpen für ausseralpine Zentren wie Wasserkraftenergie, Trinkwasser, Transitverkehr, die gegenwärtig zu billig abgegeben werden, werden spürbar erhöht; mit diesem Geld werden besonders strukturschwache Alpenregionen mit dem Ziel einer Aufwertung ihrer spezifischen Potentiale unterstützt.

Damit stehen gleichberechtigte regionale Wirtschaftsverflechtungen zwischen endogenen und exogenen Nutzern im Zentrum der Leitidee der ausgewogenen Doppelnutzung, und ihre Realisierung ist sehr entscheidend für die Umsetzung, die zwischen Globalisierung und Autarkie steht.

Werner Bätzing